Shackleton und das Scheitern

von Dr. Udo Haeske (Kommentare: 0)

Hier erhalten Sie 5 Reflexionsangebote über das Scheitern. Was machen Sie daraus?

„Wer alle seine Ziele erreicht hat, hat sie zu niedrig gewählt.“ Herbert von Karajan

Das Scheitern ist immer möglich, wenn man sich ambitionierte Ziele setzt. Die Aussicht auf Erfolg ist ohne die Kehrseite der Gefahr des Misserfolgs nicht zu haben. Deshalb wächst mit der Höhe der Ziele automatisch die Fallhöhe des Scheiterns. Wer sich gegen Letzteres absichern will, muss also auch auf Ersteres verzichten - gemäß dem Motto: Wer nicht wagt der nicht gewinnt. Sir Ernest Shackleton ist größte Risiken eingegangen: er hat sein Leben auf das Spiel gesetzt, bei den Versuchen, die Antarktis zu bezwingen und er hat seinen wirtschaftlichen Ruin riskiert, um seine seine Nimrod-Expedition und seine Endurance-Expedition zu finanzieren. Shackleton hat, wie Menschen vor und Menschen nach ihm, die etwas Großes bewegen wollten, Ziele formuliert, Mitstreiter geworben, Kritiker ignoriert, Pläne erstellt, verworfen und in die Tat umgesetzt, unerwartete Hindernisse überwunden. Er war erfolgreich und er ist gescheitert. Das ist eines der ältesten Drehbücher der Welt. Und es wird in immer neuen Variationen wieder geschrieben. Wir mögen diese Geschichten. Weil es die großen Abenteuer sind, die uns Hoffnung und Mut machen- selbst im Scheitern. Aber nur wenige haben sich so häufig bewusst dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt, wie Shackleton es tat, indem er seine Ziele verwirklichen wollte.

Reflexion:
Ist Ihr eigenes Drehbuch - wie Sie als Führungskraft Ihren Verantwortungsbereich führen -, Stoff für eine Geschichte, die erzählt werden will? Oder bevorzugen Sie bewährte Routine als Absicherung gegen das Risiko des Scheiterns? Um welchen möglichen Erfolg bringen Sie sich und Ihr Team dadurch?

 

„Erfolg bedeutet, von Scheitern zu Scheitern zu gehen, ohne den Enthusiasmus zu verlieren.“ Winston Churchill

Shackleton war Offizier in R.F. Scotts Expeditionsteam, das 1901 erstmals versuchte, den Südpol zu erreichen. Shackleton gehörte zu den zwei Auserwählten, die neben Scott den Fußmarsch zum Südpol versuchten. Die Männer mussten umkehren, angeblich, wegen Shackletons Schwäche. Scott zwang ihn, frühzeitig die Heimreise anzutreten. Ein beschämendes Scheitern. 1907 unternahm Shackleton dann seine eigene Nimrod-Expedition. Auch auf dieser Expedition entschied er, den Fußmarsch zum Pol abzubrechen, wegen der Gefahr zu sterben. Ein kalkuliertes Scheitern. Wenige Jahre darauf musste Shackleton tatenlos zusehen, wie sich Amundsen und Scott ein heroisches Wettrennen zum Pol liefern, und Amundsen 1911 der erste Mensch am Südpol ist. Shackletons Lebensziel: geraubt. Ein stoisches Scheitern. Shackleton orientierte sich neu: die Bezwingung des Pols konnte nicht das Ende der Polarexpeditionen bedeuten. Er plante ein noch verwegeneres Vorhaben: die Durchquerung des gesamten antarktischen Kontinents. 3000 Kilometer über das zerklüftete Eis. Doch schon auf dem Weg ins Weddellmeer wird das Schiff vom Eis gepackt, gepresst und schließlich zermalmt. 28 Männer verlieren das Schiff, das sie in Sicherheit bringen könnte und müssen auf eine Eisscholle umziehen. Shackleton kann sein Ziel, die Antarktis zu durchqueren, abschreiben. Wie überleben? Wie mit den Schulden klarkommen, falls man überhaupt überleben sollte? Wie mit den wartenden Kritikern umgehen, die schon vorab prophezeiten, dass das Unternehmen unmöglich sei? Im Angesicht des sinkenden Schiffes: ein existenzielles Scheitern. Die Mannschaft überlebt die Zeit auf dem Packeis und gelangt schließlich auf die vergessene Insel Elephant Island. Um Hilfe zu organisieren, muss Shackleton mit 4 Männern in einem kleinen Boot wieder auf das offene Meer hinaus. Gegen jede Wahrscheinlichkeit gelingt es, Südgeorgien zu erreichen. Shackleton versucht, ein Schiff zu organisieren, um die Zurückgelassenen zu retten. Es vergehen Monate. Vier Versuche sind nötig, vier Mal müssen verschiedene Schiffe in zähen Verhandlungen organisiert werden. Dreimal scheitern die Versuche wegen des Wetters. Über Wochen musste Shackleton mit den Rückschlägen und der Sorge leben, dass die Zurückgebliebenen sterben könnten. Jeder Tag zählte. Zermürbendes Scheitern. Es gelingt schließlich im vierten Anlauf, die Mannschaft zu retten. Alle überleben das Drama. Alle. Der Empfang der Überlebenden bei der Rückkehr nach England 1917 fiel dennoch spärlich aus, weil England sich im Krieg befand und Kriegshelden attraktiver sind als Abenteurer. Die Zeiten hatten sich geändert. Scheitern am Zeitgeist. Was muss in Shackleton vorgegangen sein, als er realisierte, dass sein Volk sich im Krieg befand, während er ein persönliches Abenteuer bestand - und er dabei auch noch scheiterte? War das ein finales Scheitern? Shackleton fiel es zeitlebens schwer, ein bürgerliches Leben zu führen. Nach dem Drama im Eis war das scheinbar unmöglich. Wie sonst ist zu erklären, dass er schon 1921 wieder die Familie zurückließ und mit einer Crew Altgedienter die Reise in Richtung Polarmeer machte, wo er wenige Monate später an einem Herzinfarkt starb? Am Leben gescheitert? Angesichts der vielen Misserfolge Shackletons muss man bewundernd anerkennen, wieviel Widerstandskraft dieser Mann hatte. Oder Starrsinn? Menge und Größe des Scheiterns sind so maßlos, dass es übermenschlich erscheint, wie es ihm immer wieder gelang, aufzustehen und weiterzumachen. Oder war es am Ende gar kein Scheitern, sondern eine Vollendung des Weges im All-Ein-Sein? Ein Mensch der sein Leben gelebt hatte und genau deshalb zur Legende und Inspiration werden musste?

Reflexion:
Wie gehen Sie mit Rückschlägen um? Wie sind Sie in der Vergangenheit damit umgegangen? Haben Sie sie als Treibstoff für das Weitermachen genutzt, nachdem Sie den Schock und die Depression überwunden hatten? Welche Lehren haben Sie daraus gezogen, und welche Konsequenzen hatten diese Lehren für Ihren weiteren Weg?

 

„Wer Großes versucht, ist auch bewundernswert, wenn er fällt.“ Seneca

Wenn man nur Shackletons Scheitern betrachtet, könnte man erwarten, dass er in Vergessenheit geraten musste. In den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod war das in seinem Heimatland auch der Fall. Vielleicht lag es daran, dass in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg andere Helden gesucht und gefeiert wurden. Und dass dann der zweite Weltkrieg folgte. Da standen wieder soldatische Tugenden im Kurs. Erst nach dieser Jahrhundertkatastophe suchte man nach neuen Helden. Nur wo sollte man die finden? Mitte der 50ern schrieben Margery und James Fisher dann eine Biografie über Shackleton. Jetzt war offenbar die Zeit für einen Helden gekommen, der moralisch zweifelsfrei war. Shackleton, der Mann, der es schafft hatte, der erbarmungslosen Naturgewalt der Antarktis zu trotzen und der sein Leben für das seiner Männer aufs Spiel setzte. Der durch seine Führungsqualitäten seine gesamte Mannschaft rettete. Er wies Qualitäten auf, mit denen man sich jetzt identifizieren konnte. Dass es Shackleton und seinem Führungsteam angesichts der völlig aussichtslosen Lage nach dem Verlust der Endurance gelang, die gesamte Mannschaft zu retten, konnte kein Zufall sein. Dass er die Hoffnung auf das Überleben bei 27 Männern aufrecht erhalten konnte, obwohl alle auf sich allein gestellt auf einer Scholle abtrieben, war keineswegs selbstverständlich. Dass keine gewalttätigen Konflikte entstanden und stattdessen der Teamgeist überwog - all die Monate unter existenzieller Gefahr, muss erklärt werden. Wenn man den Kommentaren glaubt, die von Mitgliedern der Besatzung unabhängig voneinander geäußert wurden, und wenn man den Analysen glaubt, die von namhaften Forschern später verfasst wurden, dann läuft alles auf einen Punkt hinaus: es lag an Shackletons Führungskunst. Man darf nicht vergessen, dass eine Reihe von Expeditionsberichten, etwa über die Franklin-Expedition oder auch die Karluk-Expedition zum Nordpol zeigen, dass der Verlust von Menschenleben bittere Realität vieler Expedition war - selbst unter weit weniger dramatischen Rahmenbedingungen. Dieses Wissen ist notwendig, um einschätzen zu können, was die Zuspitzung auf die Führung einer Person wirklich bedeutet.

Reflexion:
Welche „Kontinente“ auf Ihrer persönlichen „Landkarte“ warten noch darauf, entdeckt und erobert zu werden? Welche „Expedition“ wird immer wieder verschoben, weil das Tagesgeschäft wichtiger und das Alltägliche sicherer ist? Warum nicht eine Entscheidung treffen: Loslegen oder Loslassen? Es tun, oder es endlich vergessen, um das nagende Gefühl loszuwerden, dass da noch etwas unerledigt ist.

 

„Die Ungeduld, mit der man seinem Ziel zueilt, ist die Klippe, an der oft gerade die besten Menschen scheitern.“ Friedrich Hölderlin

Noch bevor Shackleton und seine Mannschaft den fremden Kontinent erreichten, fror das Schiff im Packeis ein. Und nachdem das Eis das Schiff erst einmal gepackt hatte, blieb nur eine schwache Hoffnung, dass es mit im Frühjahr mit der Schmelze wieder freikommen könnte. Es war eine unrealistische Hoffnung. In den folgenden Wochen nahm der Druck zu und das Schiff sank aufgrund der brachialen Eispressungen. Nachdem klar war, dass das Schiff sinkt, blieb nur die Flucht auf das Eis. Es gab nur ein paar dünne Stoffzelte, denn niemand war auf eine solche Katastrophe vorbereitet. Kein Funk, kein Telefon, kein Radio. Kälte, Nässe, Gefahren, Monotonie und Hunger nagten an Körper und Moral. Monate trieben sie auf dem Eis immer weiter ins Nirgendwo. Als das Eis im Frühjahr zu schmelzen begann, mussten sie in den geretteten Beibooten auf das kalte, aufgepeitschte Polarmeer hinaus. Isoliert, entkräftet und vollständig aufeinander angewiesen. Der folgenreiche Fehler am Anfang der Expedition lag darin, die Expedition durchzuführen, obwohl die erfahrenen Walfänger vor Ort mahnten. Denn der Winter kündigte sich bereits an, als die Endurance sich in Richtung Polarkreis auf den Weg machte. Waren alle Schwierigkeiten eine Folge der Ungeduld, die Expedition um jeden Preis nach Plan zum Ziel zu bringen? Hätte Shackleton gewartet, hätte er erkannt, dass das Wetter seinen Zeitplan nicht genehmigt. Aber dann hätte er die Expedition um ein Jahr verschieben müssen.

Reflexion:
Kennt man das nicht? Man treibt sich an: „…. muss noch schnell“ Einfach, weil es geplant ist, auch wenn die Umstände zu anderem mahnen. Wo waren Scheitern und Misserfolg bei Ihnen dadurch verursacht, weil Ungeduld im Spiel war? Oder: Was tun Sie, um der operativen Hektik zu entgehen, um einerseits Zeit zu finden, als Führungskraft auch mittel- und langfristige Ziele zu definieren? Und um andererseits die Entscheidungskompetenz auch angesichts der Tageshektik zu erhalten?

 

„Ich bin nicht gescheitert - ich habe zehntausend Wege entdeckt, die nicht funktioniert haben.“ T. A. Edison

Shackleton beweist in der aussichtslosen Situation nach dem Verlust des Schiffes, was Leadership bewegen kann. Es gelingt ihm und seinem Führungsteam, die gesamte Mannschaft nach zwei Jahren Odyssee zu retten - gegen jede Wahrscheinlichkeit. Sein Stellvertreter Frank Wild hält die Moral der Zurückgebliebenen auf der Insel aufrecht. Sein Kapitän Frank Worsley erweist sich als genialer Navigator auf See, Tom Clean als unerschütterlich loyaler Mitstreiter. Frank Hurley als unersetzlicher Zeuge, der die Ereignisse mit der noch neuen Technik der Fotografie auf zeitlosen Bildern dokumentiert und für immer vergegenwärtigt. Shackleton selber hat im Moment des unwiederbringlichen Verlustes des Schiffs erkannt, worauf es wirklich ankommt. Im ultimativen Scheitern erkannte er seine Verantwortung als Führungskraft. Er musste erkennen, dass alle früheren Ziele dahin sind. Ziele, die seinem persönlichen Ehrgeiz entsprangen, die letztlich seinem Wunsch nach Ruhm geschuldet waren. Im Moment, in dem er das Schiff verliert, - für einen Kapitän sicher der größte Verlust- gibt es für ihn nur noch ein Ziel: Die Rettung der Mannschaft. Selbstlos. Das stellt eine vollständige Wende dar. Shackleton war sich der Bedeutung guter Führung schon früh sehr bewusst: er hatte im Laufe seiner Karriere viele Kapitäne erlebt und als Offizier und Expeditionsleiter erprobt und reflektiert, welchen Einfluss der Führungsstil auf den Erfolg und Misserfolg einer Expedition haben kann. Doch in diesem Moment geschah mehr: alle persönlichen Interessen traten in den Hintergrund. Er erkannte wahrscheinlich, dass das Überleben der Menschen angesichts der lebensbedrohlichen Umgebung, in der sie sich befanden, von seiner Führungsstärke abhängt. Dass es seine Aufgabe ist, die Moral zu erhalten, unbeirrbar an eine Vision - das Überleben -, zu glauben, die Mannschaft zu organisieren, Konflikte zu lösen, alle so zu motivieren, dass der Lebensmut nicht verloren geht. Es sind Kernaufgaben der Führung. Er ist Beispiel und Vorbild, weil er sie annimmt und in vielen folgenden Entscheidungen beispielhaft und erfolgreich umsetzt, was er im Laufe seiner Führungskarriere gelernt hat.

Reflexion:
Eine engagierte Führungskraft kann gar nicht verhindern, dass sie hin und wieder Fehler macht. Die Frage ist, ob man den Mut hat, sich Schwächen und Fehler einzugestehen und daraus zu lernen. Sind es nicht die Fehler, aus denen man am meisten lernen kann? Haben Sie den Mut, Ihre Fehler anzusehen? Und ist es dann noch ein Scheitern, wenn man lernt, statt zu tabuisieren?

 

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