Leadership by Mission

von Dr. Udo Haeske (Kommentare: 0)

In diesem Text wird ein Modell vorgestellt, das erklärt, warum manche Führungskräfte einen höheren Einfluss auf ihre Mitarbeiter haben als andere. Shackletons Leadership-Impact lässt sich daran erklären und Sie erhalten ein Reflexionsinstrument zur Einschätzung Ihrer eigenen Führungs-Stärke.

Leadership by Function

Auf dieser Ebene ist man Führungskraft, weil relevante Entscheider in der Organisation beschlossen haben, dass man eine Führungsrolle übernehmen darf. Dieser Umstand ist natürlich noch kein Ausweis von Führungskompetenz, sondern zunächst nur die Zuschreibung einer Funktion, einer Verantwortung und bestimmter Privilegien, die sich aus dieser Funktion in ihrem Kontext ergeben. Mit der Funktionsübernahme sind zwar offiziell bestimmte Führungsaufgaben verbunden, da die Entscheidung über diese Funktionsübernahme aber von anderen getroffen wurde und nur mit dem formalen Akt der Zustimmung von der zukünftigen Führungskraft bestätigt wird, folgt nicht notwendigerweise, dass die neue Führungskraft auch innerlich bereit ist, sich diesen Aufgaben zuzuwenden. Es schmeichelt dem Ego, wenn man ausgewählt wird und eine exponierte Position angeboten bekommt, und gleichzeitig könnte es Karriere-Nachteile zur Folge haben, wenn man ein solches Angebot ablehnt. Das macht ein "Ja!" als Antwort auf solch ein Angebot auch sehr wahrscheinlich -selbst wenn die Privilegien spärlich ausfallen. Nicht jeder wägt die Konsequenzen, die mit dem Aufstieg verbunden sind, ab. Und es ist überraschend, wie viele Führungskräfte sich im Coaching zum ersten Mal mit der Frage beschäftigen, was ihr Antrieb war und ist, Führungskraft zu sein. Wer auf dieser Ebene der Rollenübernahme stehen bleibt, wird nur einen sehr geringen Impact auf seine Umgebung haben. Mitarbeiter, die erleben, dass eine Führungskraft nur deshalb Führungskraft ist, weil Entscheider sie in diese Rolle gehoben hat, klagen häufig, dass die Führungsaufgaben nicht wahrgenommen werden. Sie erleben, dass sie -wörtlich- einen Vor-Gesetzten haben, aber keine Führungs-Kraft. Vorgesetzte im Leadership by Function können vielleicht auf Gehorsam setzen, werden aber kaum Gefolgschaft und erhöhte Einsatzbereitschaft abrufen können. Wer Leadership by Function ausübt, ruht sich auf den Umständen aus, die ihn in diese Funktion gebracht haben: die Fachkompetenz, gute Kontakte zu Entscheidern oder das Senioritätsprinzip.

Mit Blick auf Shackletons Führungskunst können wir diese Ebene sofort überspringen. Wäre Shackleton auf dieser Ebene unterwegs gewesen, hätte wohl niemand jemals etwas über ihn erfahren. Schauen wir uns an, was noch kommt.

Leadership by Decision

Eine Führungskraft auf dieser Ebene hat formale die Führungsrolle erhalten, ist aber einen Schritt weitergegangen, indem sie die innere Entscheidung getroffen hat, sie auch verantwortlich auszufüllen. Deshalb ist sie motiviert, Einstellungen, Verhalten, Auftreten zu verändern, sobald sie erkennt, dass dies förderlich ist, um die anstehenden Führungsaufgaben adäquat bewältigen zu können. Wer auf dieser Ebene angekommen ist, zeigt Lernbereitschaft. Dies kann auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommen: durch die Offenheit für Feedback von erfahreneren Vorgesetzten, Kollegen oder Mitarbeitern, durch das Engagement, aus der Paradies zu lernen, sich Know How in Seminaren oder im Coaching anzueignen, durch kritische Reflexion des eigenen Verhaltens und durch das Interesse, sich gezielt weiterzubilden.
Eine Führungskraft, die die Rolle ernsthaft übernehmen will, wird damit zu einer Führungskraft aus eigenem Willen - nicht nur aufgrund fremden Zutrauens. Diese Verantwortungsbereitschaft wird von Mitarbeitern gesehen und anerkannt. Respekt entsteht, weil Mitarbeiter sehen können, dass die Führungskraft an sich arbeitet, um den Rollenanforderungen gerecht zu werden - selbst wenn die Führungskraft noch im Werden und nicht perfekt ist. Mitarbeiter und Vorgesetzte räumen deshalb auch Schwächen ein. Die Führungsrolle aus eigenem Antrieb und durch die eigene Entscheidung innerlich anzunehmen, ist keineswegs die Norm - so selbstverständlich es einem erscheinen mag. Es liegt auf der Hand, dass Führung auf dieser Ebene Engagement erfordert und Mühe macht, denn wer sich selbstkritisch betrachtet, muss sich mit seinen Schwächen auseinandersetzen, muss Kritikfähigkeit entwickeln, sich mit Erwartungen und Eigenarten anderer beschäftigen und er muss sich über die Fachkompetenz hinaus mit der persönlichen Entwicklung beschäftigen.

Shackleton wollte Führungskraft sein. Schon in jungen Jahren beschloss er, das Kapitänspatent zu erwerben, was ihm 1898 gelang. Auf der Discovery-Expedition mit Scott wurde er in das dreiköpfige Expeditionsteam gewählt - obwohl er nicht Scotts erste Wahl war. Aber Scott respektierte, dass Shackleton engagiert und anerkannt war. Als Shackleton seine erste eigene Expedition plante, suchte er Fritjof Nansen auf - zu seiner Zeit einer der erfahrensten und angesehensten Polarexperten - um von ihm zu lernen. Als er auf der Nimrod-Expedition unterwegs war, ging er häufig zu den Nachtwachen an Deck, um sich Ihnen zu unterhalten und um sie mit seinen Gesprächen zu motivieren. Später auf der Endurance besprach Shackleton mit seinem direkten Führungskreis seine Pläne und hörte auf das Feedback seines Stellvertreters Wild und seines Kapitäns Worsley. Auch wenn Shackleton es nie explizit beschrieb, legen seine Handlungen während vieler Krisen der Endurance-Expedition nahe, dass er überlegt eingriff, um den sozialen Zusammenhalt in der Mannschaft über die gesamte Expedition hinweg aufrecht zu erhalten. Kurzum: Shackleton war bereit, zu tun, was von einem Expeditionsleiter zu erwarten war und er war auch bereit zu lernen. Auch wenn er seine Komfortzone verlassen musste. Shackleton wollte führen, daran gibt es keinen Zweifel. Aber dies ist noch nicht der Level, auf dem er seine wahre Kraft entfaltet.

Leadership by Identity

Auf dieser Ebene ist man nicht Führungskraft, weil andere es wollen (Ebene 1) oder weil man sich bemüht, es zu sein (Ebene 2), sondern weil die Führungsrolle zum Ausdruck der eigenen Identität geworden ist. Wer auf der Ebene der Identität angelangt ist, der arbeitet nicht mehr daran, bestimmte Führungstechniken anzuwenden, sondern führt, weil andere ihn/sie als Leader wahrnehmen und sich an dem Menschen orientieren. Sie wollen von diesem Menschen geführt werden. Leadership by Identity strahlt eine natürliche Autorität aus. Wenn Sie hier an Charisma denken, liegen sie richtig, aber man kann es auch ganz pragmatisch beschreiben: wer lange geführt hat und diese Rolle bewusst wahrgenommen hat, der identifiziert sich irgendwann mit dieser Rolle. Andere zu führen, wird zur Routine, Verantwortung zu tragen, Entscheidungen zu treffen, die Bühne einzunehmen fallen immer leichter. Führung wird zur Selbstverständlichkeit - die Selbstverständlichkeit wird zum Ausdruck der eigenen Natur. Man strahlt Führungsanspruch und -bereitschaft aus. Umso mehr, je stärker man die Aufgaben der Führung verantwortlich ausfüllt. Langjährige Führungserfahrung mündet sehr häufig, aber nicht zwingend in ein Leadership by Identity. Es ist selten aber nicht unmöglich, dass eine junge Führungskraft auf dieser Ebene startet. Wer auf dieser Ebene angelangt ist, hat eine enorme Führungswirkung. Leider finden sich auf dieser Ebene sich nicht nur reife Persönlichkeiten, sondern sogar bevorzugt Personen mit psychischen Auffälligkeiten. Narzissten, Personen mit grandioser Selbstwahrnehmung, Menschen mit Allmachtsphantasien oder fehlender kritischer Distanz zu ihrem Tun strahlen natürlicherweise ein hohes Selbstbewusstsein aus, das Menschen mit einem komplementären Defizit magnetisch anzieht. Sie sind daran zu erkennen, dass sie zwar Führungsanspruch ausstrahlen, die Verantwortung für die Aufgaben der Führung jedoch immer da vernachlässigen, wo ihre Position in Frage gestellt werden könnte. Reflektierte Führungs-Persönlichkeiten wissen hingegen immer auch um ihre Schwächen und können sie integrieren. Sie mögen erleben, wie sie zur Projektionsfläche der Größenphantasien ihrer Umgebung werden, die sie als Führungspersönlichkeit mystifizieren. Diese Dynamiken nutzen Personen mit gesunder Leadership-Identität jedoch nicht eigennützig aus, sondern als Antrieb, um gemeinsame Ziele zu verwirklichen.

In Frank Worsleys Beschreibungen in seinem Buch Endurance kommt immer wieder die Bewunderung für den Menschen Shackleton zum Ausdruck, den alle "the boss" nannten. Es sind Beschreibungen, die exemplarisch stehen für das, was auch andere aus der Mannschaft über ihn sagten und die zeigen, dass Shackleton eine natürliche Autorität ausstrahlte. Die Männer waren bereit, ihm zu vertrauen und sich seiner Führung unterzuordnen. Shackleton wurde nicht nur als erfahrener Seemann und Polarforscher wahrgenommen, sondern als ebenso vertrauenswürdige, einsatzbereite und dienende Führungskraft. Er musste niemandem beweisen, dass er der Boss war. Und das strahlte er spätestens auf der Nimrod-Expedition aus.
Shackleton war eine Führungskraft mit Leadership-Identity - aber seine wahre Führungsstärke erklärt sich auf dem kommenden Level.

Leadership by Mission

Auf dieser Ebene ereignet sich etwas ganz ungewöhnliches, weil die Führung nicht mehr von der Person ausgeht, sondern von einer Mission, einer Idee, die sich in der Führungskraft verkörpert, und für die sie steht. Führungskräfte mit einer Mission sind nach allgemein gültigen Führungsmaßstäben eher unkonventionell, sie handeln auch oft entgegen den geltenden Regeln. Sie strahlen nicht einmal zwingend den Anspruch aus, Menschen führen zu wollen. Wie kommt es, dass Sie dennoch als Führungskräfte akzeptiert und sogar glorifiziert werden? Sie stellen ihre Identität - jenes Ich, das die meisten Menschen so gerne im besten Licht ausstellen mögen - hinter der Mission zurück, die sie verfolgen. Die Führungswirkung geht von der Mission aus, die durch die und die Führungskraft hindurchstrahlt. Ist man von der Mission infiziert, scheint das Verhalten der Führungskraft weitestgehend irrelevant. Man gesteht einem Leader by Mission Freiheitsgrade zu, die Führungskräften der unteren Level nie eingeräumt würden. Persönlichkeiten wie Gandhi, Nelson Mandela oder Mutter Teresa werden selten durch die Filter der gängigen Führungstheorien beurteilt. Vielmehr wird umgekehrt verfahren: Nachdem ihre Wirkung auf andere unbestreitbar festgestellt wurde, fragt irgendjemand danach, welche ihrer besonderen und bisher übersehenen Verhaltensweisen möglicherweise als Distinktionsmerkmal für zukünftige Führungstheorien verallgemeinerbar sind. Der Umstand, dass ein Mensch (s)eine Mission gefunden hat, die er/sie zu verwirklichen hofft, manifestiert möglicherweise den dominantesten Führungsanspruch. Eine Mission zu verfolgen, stellt die Sache über die Führungsrolle und über das Einzelindividuum. Das scheint aller Beobachtung nach eine enorme Anziehungskraft für Gefolgschaft zu haben. Und es scheint aufzuheben, was auf den vorangegangenen Ebenen als Wirkfaktor guter Führung definiert wurde: es geht weder um die Funktion, noch um Verhaltensweisen noch um die Führungs-Identität. Hier führt die Idee und nimmt den Menschen, der sie verkörpert, als ersten Botschafter in ihren Dienst.
Vielleicht ist es nicht zufällig, dass einem in diesem Zusammenhang rasch spirituelle und politische Führer einfallen. Und wie auf der vorangegangenen Ebene finden sich bedauerlicherweise auch hier abschreckende Beispiele. Scharlatane, Gurus, Überzeugungstäter, Verführer haben zu allen Zeiten Menschen für abwegige Missionen einnehmen können. Doch wo Schatten ist, findet sich auch Licht, und Shackleton ist ein Beispiel, in dem sich Leadership by Mission vorbildlich verkörpert.

Als Shackleton Mitte Oktober 1915 absehen konnte, dass das Eis die Endurance zerstören wird, muss er sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, was das für sein Leben, seinen Lebensplan bedeutet. Rekapitulieren wir: Er hatte erlebt, dass Amundsen im Dezember 1911 seinen Traum, der Erste am Südpol zu sein, platzen ließ, dass Scott, der in ständiger Konkurrenz zu ihm stand, am 29. März 1912 auf dem Rückweg vom Südpol starb und als nationaler Held über ihm stand. Shackleton musste akzeptieren, dass sein nunmehr dritter Versuch, in der Antarktis endlich etwas ganz außerordentliches zu erreichen, wortwörtlich mit der Endurance untergehen würde. Die Aussicht, dass auch die Mannschaft im ewigen Eis stirbt, muss Shackleton beängstigend präsent gewesen sein. In einem Dialog mit Worsley ( Endurance, S.30) äußert er einmal den Gedanken, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn die Admiralität die Endurance nicht zur Expedition freigegeben hätte, und dass wahrscheinlich niemand daheim diese Expedition verstünde. Shackleton muss sich bewusst gewesen sein, dass seine Expedition Gefahr lief, als ungeheuerlichstes Desaster in die Annalen der Polarforschung einzugehen. Es würde ewig mit seinem Namen verknüpft sein. Und es würde fortan die Ehre seiner Familie daheim überschatten. Seine Frau und seine Kinder, denen er mit seinen Expeditionen in jeder Hinsicht so viel zugemutet hatte, würden für seine risikoreichen Abenteuer zusätzlich bezahlen. Mir scheint plausibel, dass Shackleton im Moment des sinkenden Schiffes am 21.11.1915 bereits eine Entscheidung von fundamentaler Bedeutung getroffen hatte: Das Ziel, die Antarktis zu durchqueren, wurde gegen eine Mission, nämlich die Rettung der Mannschaft um jeden Preis, eingetauscht. Shackleton ist deshalb ein Beispiel für eine vorbildliche Führung, weil er mit dem Sinken der Endurance eine zutiefst humane Mission ("Gehen wir nach Hause") über sein früheres Ziel stellte, das letztlich noch durch Eigeninteressen geleitet war (eine heldenhafte Durchquerung der Antarktis). Dies war keine freiwillige Entscheidung, sondern durch die gnadenlose Macht der Natur erzwungen. Es war aber auch seine existenzielle Kehrtwende. Es gab keinen Zwang sich so verantwortungsvoll zu entscheiden, wie Shackleton es tat, deshalb ist diese Entscheidung bemerkenswert. Die Entscheidung, einer Mission zu folgen, ist der Level auf dem Shackleton seine Führungsstärke entfaltet.

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